Das Thema Organspende geht alle an
03.12.2021 GesundheitInterview: PD Dr. med Franz Immer, Facharzt für Herzchirurgie FMH, Direktor der Stiftung Swisstransplant
Swisstransplant führt im Auftrag des BAG die Warteliste der Organempfängerinnen und -empfänger und ist für die Zuteilung der Organe zuständig. Ausserdem ...
Interview: PD Dr. med Franz Immer, Facharzt für Herzchirurgie FMH, Direktor der Stiftung Swisstransplant
Swisstransplant führt im Auftrag des BAG die Warteliste der Organempfängerinnen und -empfänger und ist für die Zuteilung der Organe zuständig. Ausserdem führt die Stiftung das Organspenderegister.
◆ Herr Immer, warum sollte man sich als Organspender registrieren lassen?
Die Organspende geht alle bis ins hohe Alter an. Es gibt keine Ausschlusskriterien. Unser ältester Spender war 87. Der Grund, warum sie sich ins Organspenderegister eintragen lassen sollten – und eben nicht nur in eine Spendekarte – ist, dass sie ihren Entscheid zu Lebzeiten festhalten können, ob sie spenden wollen oder nicht. Das schafft Sicherheit und Klarheit, wenn die Frage im Raum steht. Das entlastet die Angehörigen, die sonst stellvertretend entscheiden müssen.
◆ Es heisst, ein Spender kann bis zu sieben Menschen helfen?
Wir können von einem Spender sieben Organe entnehmen und zuteilen. Man kann das sogar noch etwas weitertreiben und die Leber teilen. Sie können den kleinen linken Leberlappen einem Kind mit bis zu 25 Kilo geben und den rechten Lappen einem Erwachsenen. So können sogar acht Organe zugeteilt werden. In ganz seltenen Fällen können Sie auch die Lunge teilen.
◆ Wie viele Betroffene warten derzeit auf ein Spenderorgan?
Akut sind rund 1450 Menschen auf der Warteliste. Wir haben pro Jahr etwa 100 bis 150 gestorbene Spender, von denen im Schnitt etwa drei Organe entnommen und zugeteilt werden können. Wir transplantieren im Jahr zwischen 400 und 500 Organe.
◆ Wie lange ist die durchschnittliche Wartezeit?
Bei der Niere beträgt die Wartezeit etwas über drei Jahre. Das ist ein Mittelwert. Es gibt Menschen, die sieben bis acht Jahre warten. Bei Leber, Lunge und Herz rechnen wir etwa mit einem Jahr. Auch hier gibt es Menschen, die deutlich länger warten, je nach Anatomie.
◆ Nach welchen Kriterien erfolgt die Zuteilung der Organe?
Die Zuteilung erfolgt nach klaren Kriterien. Ich gebe ein Beispiel: Sie sind 58 Jahre alt, wiegen 130 Kilo, haben Blutgruppe 0 und brauchen ein Herz. Bei der Zuteilung werden Alter, Grösse, Gewicht und Blutgruppe berücksichtigt. So kann es eben gut sein, dass Sie bei vielen Spendern, wo eine Zuteilung möglich wäre, gar nicht in eine Zuteilung kommen, weil sie nicht die richtige Blutgruppe haben oder der Spender zu leicht oder zu jung ist. Gerade beim Herzen ist das zentral.
◆ Andere Kriterien sind medizinische Dringlichkeit und medizinischer Nutzen. Können Sie das erklären?
Dringend ist, wer an Leib und Leben gefährdet ist, aufgrund eines Organversagens. Der hat absolute Priorität und soll das passende Organ erhalten dürfen, sagt der Gesetzgeber. Der medizinische Nutzen ist dann entscheidend, wenn niemand dringlich ist im Rest auf der Warteliste. Beim Herzen hat die Expertengruppe beispielsweise gesagt, Spender und Empfänger sollen nicht mehr als 15 Jahre Altersunterschied und nicht mehr als 20 Prozent Gewichtsunterschied aufweisen. So wird dann entlang des medizinischen Nutzens eine Rangliste erstellt, die zuerst die Patienten beinhaltet, welche die Kriterien erfüllen und in dieser Reihenfolge der, der am längsten wartet. Das ist natürlich sehr mechanisch gedacht: junge Herzen zu eher jungen Empfängern.
◆ Hat es Auswirkungen auf die lebenserhaltenden Massnahmen, wenn ich Organspender bin?
Das ist eine Angst, die wir ab und zu lesen: Bin ich dann wirklich tot? Das sind Urängste, die einige Menschen sehr beschäftigen. Es ist so: Der Entscheid zur Organspende kann im Register nur abgefragt werden, wenn beschlossen wurde, dass man die Therapie abbricht, also, dass der Patient stirbt. Das ist ein Vorteil des Organspenderegisters, dass man eben nur dann eine Abfrage machen darf und die Abfrage namentlich dokumentieren muss. Der Registrierte erhält dann eine Mail, dass das Register konsultiert wurde. Wir kennen den Wunsch oder Registereintrag bei Eintritt nicht, deshalb ist das eine unbegründete Angst.
◆ Warum ist ein Eintrag in das Organspenderegister besser als eine Organspendekarte?
Wenn die Personalien bekannt sind, öffnet man das Portemonnaie eigentlich nie in Spitälern. Viele Karten kommen ausserdem erst gar nicht ins Portemonnaie. Daher werden grundsätzlich nur sehr wenige Spender gefunden. Deshalb sollte man die Karte in einen Registereintrag umwandeln.
◆ Wie stehen Sie zum indirekten Gegenvorschlag des Bundesrates zur Einführung einer erweiterten Widerspruchslösung?
Wir von Swisstransplant unterstützen die erweiterte Widerspruchslösung, die man ausser in Dänemark, Deutschland und der Schweiz in allen westeuropäischen Ländern seit Jahren kennt. Die erweiterte Widerspruchslösung bedeutet, dass jeder seine eigene Verantwortung wahrnehmen muss. Das heisst, man sollte sich zeitlebens ins Organspenderegister eintragen, ob man spenden will oder nicht. Wenn kein Eintrag vorliegt, wird im Gespräch mit den Angehörigen gefragt, ob der Verstorbene grundsätzlich eine Organspende gewollt hätte oder nicht. Wenn sie keine Kenntnis dazu haben und kein Eintrag vorliegt, dann geht man davon aus, dass der Verstorbene einverstanden gewesen wäre, seine Organe und Gewebe zu spenden. Das ist eine Verlagerung von den heutigen Modalitäten: Wenn kein Eintrag vorliegt – und das ist bisher in der Hälfte der Anfragen in den Intensivstationen der Fall – müssen die Angehörigen stellvertretend entscheiden. Das ist für die Familie äusserst belastend und mit ein Grund, warum die Ablehnungsrate mit 60 Prozent europaweit eine der höchsten ist. Die Zustimmung in der Bevölkerung ist knapp 80 Prozent. Das war sicherlich politisch ein wichtiges Argument, dass die Mehrheit der Bevölkerung grundsätzlich positiv zur Organspende eingestellt ist, aber nur gerade einmal 16 Prozent eine Spendekarte oder einen Registereintrag haben. Aktuell sind nur 130 000 Personen im Organspenderegister eingetragen.
◆ Wird es bei einer möglichen Einführung der erweiterten Widerspruchslösung ein zusätzliches Register geben?
Es gibt viele Länder, die nur ein Ablehnungsregister führen, weil man sagt, alle anderen sind grundsätzlich Spender. Das Parlament, aber auch wir, waren der Meinung, dass wir gerne ein «Ja/Nein»-Register hätten, weil wir es wichtig finden, dass auch ein «Ja» dokumentiert ist. Der Wunsch des Verstorbenen ist letztendlich das, was bindend ist. Es ist geklärt, dass es ein solches Register geben wird und dass die nationale Zuteilungsstelle – das ist im Augenblick Swisstransplant – dieses führen wird. Das ist im Gesetz so niedergeschrieben.
◆ Zuletzt eine persönliche Frage: Sie sind selbst Herzchirurg. Denken Sie an den verstorbenen Spender, wenn Sie ein Herz transplantieren?
In der Herzchirurgie entnimmt ein Team beim Spender das Organ, das andere bereitet den Empfänger vor. Ich war bei rund 50 Herztransplantationen involviert. Was mir sehr, sehr wichtig war, wenn ich ein Organ herausgenommen habe und es verpackt war: Ich bin immer kurz zum Verstorbenen zurückgegangen und habe 20 bis 30 Sekunden innegehalten und mich bei ihm bedankt. Weil dieser Akt der Solidarität, der einem anderen Menschen wieder Lebensqualität und Überleben zurückbringt, nicht selbstverständlich ist. Ich habe ganz viele Patienten, die feiern das als zweiten Geburtstag und haben symbolische Zeichen in ihrer Wohnung für ihren Spender aufgestellt. Sie leben mit und für ihren Spender weiter.
Michael Lux
Organspende – was gilt bisher und was ändert sich?
Die Referendumsfrist für den indirekten Gegenvorschlag des Bundesrats zur Volksinitiative «Organspende fördern – Leben retten» läuft bis zum 20. Januar 2022. Falls kein Referendum zustande kommt, wird der indirekte Gegenvorschlag einer erweiterten Widerpruchslösung ohne Volksabstimmung in Kraft treten und könnte 2023 eingeführt werden.
Erweiterte Zustimmungslösung
Die erweiterte Zustimmungslösung entspricht dem aktuellen System der Schweiz: Ist kein Wille der verstorbenen Person ersichtlich, müssen die Angehörigen stellvertretend für die verstorbene Person entscheiden.
Erweiterte Widerspruchslösung
Bei der erweiterten Widerspruchslösung können die Angehörigen einer Organentnahme widersprechen, falls sie Kenntnis davon haben, dass die verstorbene Person ihre Organe nicht hätte spenden wollen. Liegt kein Entscheid vor, so wird davon ausgegangen, dass die verstorbene Person mit der Organspende einverstanden gewesen wäre.
Organspenderegister unter: register.swisstransplant.org