«Es geht überhaupt nicht um Diskriminierung»
27.09.2024 BirmenstorfGemeindeammann Marianne Stänz wünscht sich mehr Frauen in den Schweizer Gemeinderäten
Marianne Stänz ist die einzige Frau im Birmenstorfer Gemeinderat. Doch damit steht sie nicht alleine da: In den Schweizer Gemeinderäten sind die Frauen stark ...
Gemeindeammann Marianne Stänz wünscht sich mehr Frauen in den Schweizer Gemeinderäten
Marianne Stänz ist die einzige Frau im Birmenstorfer Gemeinderat. Doch damit steht sie nicht alleine da: In den Schweizer Gemeinderäten sind die Frauen stark untervertreten.
Frau Gemeindeammann Marianne Stänz ist in ihrem politischen Alltag umgeben von Männern. Was in der Schweiz alles andere als eine Seltenheit ist, sollte sich nach Meinung der Betriebswirtschafterin ändern. Deshalb ermuntert Marianne Stänz die Frauen, in die Kommunalpolitik einzusteigen.
◆ Frau Stänz, gibt es in der Schweiz zu wenig Gemeinderätinnen?
Ja, definitiv, Frauen sind in den Gemeinde-Exekutiven nach wie vor deutlich untervertreten. Aktuelle Daten zeigen, dass der Frauenanteil in den Gemeinderäten zwischen knapp 30 und 38 Prozent liegt. Im Aargau sind es 29,4 Prozent. Und noch extremer sieht es bei den Präsidien aus. Nur rund jedes fünfte Präsidium wird von einer Frau ausgeübt. Im Aargau ist der Ammann in nur 19,8 Prozent der Gemeinden eine Frau. Dagegen ist jeder zehnte Gemeinderat ein reines Männergremium. Diese Zahlen sprechen für sich. Und schaut man sich die Zahlen in unserer Region an, bestätigt sich das Bild: In den Gemeinderäten von Fislisbach, Mellingen, Niederrohrdorf, Remetschwil und Bellikon sitzt jeweils nur eine Frau, bei uns in Birmenstorf bin ich seit fünf Jahren ebenfalls die einzige Frau. In Künten, Mägenwil, Stetten und Wohlenschwil sind es zwei. Fast schon die Ausnahme bildet Oberrohrdorf mit drei Frauen.
◆ Warum ist das ein Problem?
Weil ein Gemeinderat, der aus fünf Männern besteht, kein Gremium ist, das die Bevölkerung gut repräsentiert – so kompetent die Männer auch sein mögen. Wir sind in den Gemeinderat gewählt worden, um das Beste für alle Einwohnenden herauszuholen. Und als Frau vertritt man automatisch eine weibliche Perspektive.
◆ Frauen haben unterschiedliche Lebenserfahrungen und Meinungen – und definieren sich ja nicht nur dadurch, Frauen zu sein.
Natürlich, da gibt es grosse Unterschiede. Ich habe zum Beispiel keine Kinder und habe studiert. Ich kann somit für die kinderlosen Studierten sprechen, das ist meine Lebenserfahrung. Ich war beruflich immer sehr aktiv, aber andere Themen kann ich nicht abdecken. Ich hatte nie Kinder, die zur Schule mussten. Ich war nicht auf dem Spielplatz. Die Erfahrung von Frauen, die Kinder aufgezogen haben, fehlt bei uns im Gemeinderat von Birmenstorf gänzlich.
◆ Sie sagen oft, dass es Ihnen nicht nur um die Frauen geht, sondern generell um eine Durchmischung in den Gremien.
Das stimmt. Gemischte, divers aufgestellte Gruppen erbringen ganz grundsätzlich bessere Leistungen. Es gibt Forschungsergebnisse, die das bestätigen. Zwar kommen die Studien aus der Privatwirtschaft, aber in der Politik ist es nicht anders: Die Leistung von Gruppen mit Jungen und Alten, Einheimischen und Zugereisten und eben auch Männern und Frauen ist abgestützter und besser. Auch meine persönliche Erfahrung zeigt, dass vielfältige Teams mit unterschiedlichen Grundhaltungen und Lebenserfahrungen mehr bringen. Alle profitieren davon.
◆ Was ist der Grund für den geringen Frauenanteil in der Kommunalpolitik? Spiegelt er nicht schlicht die konservativen Werte in unserer Gesellschaft?
Das ist sicher ein Grund. Zwei Drittel der Mitglieder in den Aargauer Gemeinderäten sind zwischen 50 und 70 Jahre alt. Und diese Generation ist stark mit dem klassischen Familienmodell aufgewachsen. Der Vater hat gearbeitet und die Mutter blieb zu Hause bei den Kindern. Für meine Altersklasse ist das die Realität. Und Gemeinderat sein ist in dieser Realität eher Männersache: Ausser Haus sein, sich exponieren, andere Meinungen aushalten, Entscheidungen fällen – das alles wird nach altem Muster eher den Männern zugeschrieben. Frauen müssen sich dagegen anpassen, geduldig und empathisch sein. Und so haben viele Frauen nicht verstanden, dass es für die Gemeinschaft sehr sinnvoll ist, wenn es mehr Frauen in den Gemeinderäten hat.
◆ Sie sagen: Die Frauen haben es nicht verstanden – und nicht: Die Männer haben es nicht verstanden.
Absolut, es geht überhaupt nicht um Diskriminierung durch die Männer. Die Frauen selbst sind das Thema und gefordert. Ihnen fehlt es oft an Selbstvertrauen und Mut, um in die Kommunalpolitik einzusteigen. Sie fragen sich: Kann ich das? Während die Männer fragen: Was bekomme ich dafür?
◆ Aber das hängt ja mit einer Rollenverteilung zusammen, die auch von Männern geprägt ist.
Natürlich, in vielen Familien ist die Frau noch immer für den Haushalt und die Kinder zuständig, auch wenn sie – wie der Mann – arbeitet. Will sie in die Politik, ist die Mehrfachbelastung enorm.
◆ Sie trafen sich kürzlich mit Gemeinderätinnen aus anderen Kantonen zu einer Tagung zum Thema Untervertretung der Frauen in den Gemeinde-Exekutiven. Fanden Sie Lösungsansätze, wie der Frauenanteil gesteigert werden könnte?
Ja, wir denken, dass Networking und gegenseitige Stärkung zentral sind. Frauen sollten sich aktiv informieren und sich gegenseitig austauschen. Nur so bekommen sie das nötige Selbstvertrauen, um sich für die Politik zu bewerben.
◆ Sie sind die einzige Frau im Gemeinderat von Birmenstorf. Wie begegnen Ihnen männliche Kollegen?
Wenn ich erzähle, dass ich eine Tagung zum Frauenanteil in den Gemeinderäten organisiere, fühlen sie sich interessanterweise sehr oft angegriffen. Sie haben das Gefühl, ich wolle sie aus ihren Ämtern bugsieren. Was natürlich überhaupt nicht stimmt. Ansonsten begegnen wir uns alle auf Augenhöhe und ich fühle mich absolut gleichwertig behandelt.
◆ Keine festgefahrenen geschlechterspezifischen Denkmuster?
Nun, wenn es um Aufgaben der Menschlichkeit und Fürsorge geht, werde vielleicht schnell einmal ich als Frau aufgeboten. Wer geht als Vertretung des Gemeinderats an eine Beerdigung, bei der die Hinterbliebenen dabei sind? Ich.
Marko Lehtinen