«Viele Ukrainer stehen an einem Scheideweg»
28.03.2025 NiederwilRaiko Schulz von der Caritas Aargau ist in der Gemeinde für 35 Geflüchtete aus der Ukraine und Afghanistan zuständig
20 Jahre arbeitete Raiko Schulz in der Pflege, bevor er sich aus Überzeugung im Asylbereich engagierte. Für seine Klienten möchte der ...
Raiko Schulz von der Caritas Aargau ist in der Gemeinde für 35 Geflüchtete aus der Ukraine und Afghanistan zuständig
20 Jahre arbeitete Raiko Schulz in der Pflege, bevor er sich aus Überzeugung im Asylbereich engagierte. Für seine Klienten möchte der 49-Jährige eine Vertrauensperson sein. Gleichzeitig müsse er aber eine gewisse professionelle Distanz wahren, um sich zu schützen und helfen zu können.
uf dem Rückweg vom Fotoshooting vor dem Alten Schulhaus, begrüsst Raiko Schulz noch schnell einen älteren Herren aus der Ukraine per Handschlag. Schulz kennt alle seine «Klienten», wie er sie nennt, persönlich. Und das sind nicht gerade wenige: Allein in Niederwil ist er für 35 Geflüchtete zuständig. Insgesamt hat der Mitarbeiter der Caritas Aargau die Fallführung für 60 bis 70 Personen in den Gemeinden Niederwil, Muri, Gontenschwil und Frick.
Vom Konditor zum Asylwesen
Der Lebensweg des 49-Jährigen ist voller Wendungen: In Deutschland geboren, lernte der heutige Doppelbürger ursprünglich Konditor, entdeckte während des Zivildienstes aber seine Leidenschaft für den Pflegeberuf. Als Schulz dann vor 27 Jahren der Liebe wegen in die Schweiz kam, machte er zunächst eine Ausbildung zum Betagtenbetreuer und bildete sich später zum Diplomierten Pflegefachmann und Teamleiter weiter. «Ich habe 20 Jahre in der Pflege gearbeitet und gedacht, ich möchte etwas Neues machen», erinnert sich Schulz. Als er 2015 die Fernsehberichte über die syrischen Flüchtlinge gesehen habe, habe er beschlossen, sich in diesem Bereich zu engagieren. Die Möglichkeit ergab sich zunächst bei der Heilsarmeeflüchtlingshilfe im Kanton Bern, wo Schulz 3,5 Jahre lang als Asylkoordinator tätig war. Über eine Kollegin kam er später zur Caritas Aargau und übernahm schliesslich 2022 die Fallführung im Auftrag der Gemeinde Niederwil.
Immer mehr Männer aus der Ukraine
«Ich bin die erste Ansprechperson für die Klienten», erklärt Raiko Schulz. Jeweils einen Tag in der Woche ist er in Niederwil. Rund die Hälfte der Geflüchteten, die der Kanton der Gemeinde zugewiesen hat, kommen laut Schulz aus der Ukraine und haben den Schutzstatus S, mit dem «Schutzbedürftige» ohne Asylverfahren aufgenommen werden.
Seit Beginn des Krieges hat sich die Zusammensetzung der ukrainischen Flüchtlinge spürbar verändert. Kamen anfangs vor allem Frauen und Kinder, leben nun teilweise ganze Familien im Alten Schulhaus, wo die Ukrainerinnen und Ukrainer in unterschiedlich grossen Zimmer untergebracht sind. «Letztes Jahr haben wir beobachtet, dass im Zuge der verstärkten Mobilmachung in der Ukraine auch mehr Männer gekommen sind», bestätigt Schulz. Ausschliesslich um junge Männer handelt es sich dagegen bei den Geflüchteten aus Afghanistan, die in der 2023 gebauten Unterkunft in der Hubelstras - se in Wohngemeinschaften leben. Sie haben den sogenannten Ausweis F für vorläufig aufgenommene Ausländer. «Jeder Asylantrag wird individuell geprüft, bei der Mehrheit der Betreuten aus Afghanistan gibt es keinen Asylgrund», erklärt der Experte. Diese könnten jedoch aus unterschiedlichen gesetzlichen Gründen nicht weggewiesen werden, etwa wegen unzumutbarer Bedingungen in ihrem Heimatland oder weil eine Rückführung aus praktischen Gründen schlicht nicht möglich sei. «Viele junge Männer sind eher aufgrund der Perspektiven hierzulande und der schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Situation in ihrer Heimat hierherkommen», weiss Schulz aus persönlichen Gesprächen. Menschlich habe er dafür durchaus Verständnis.
Bildungsniveau ist unterschiedlich
Das Ziel sei es vor allem, die Geflüchteten aus der Asylsozialhilfe herauszulösen und sie in die Bildungs- und Arbeitsprozesse in der Schweiz zu intergrieren, sagt Schulz. Waren Integrationsbemühungen für die Flüchtlinge aus der Ukraine anfangs freiwillig, gilt für sie mittlerweile ebenfalls eine Integrationspflicht. «Fast alle Klienten haben mit dem Deutschlernen begonnen», berichtet er. Im Integrationsprozess seien diese aber unterschiedlich weit. Die Kinder seien ins Schulsystem eingebunden, andere Klienten machten eine Lehre, wieder andere befänden sich in einem Übergangsjahr als Vorbereitung auf das Berufsleben. Der Bund mache mittlerweile deutlich mehr Druck, so Schulz. Der Integrationsprozess brauche jedoch Zeit. «Die Leute kommen in ein komplett neues System rein», gibt er zu bedenken. Für Ältere sei es darüber hinaus schwieriger, die deutsche Sprache zu lernen. Hinzu kommt, dass die Bildungsvoraussetzungen allgemein sehr unterschiedlich sind. Die jungen Männer aus Afghanistan haben häufig nicht lange die Schule besucht. Sie haben ausserdem noch ein anderes Handicap: «Ich habe Klienten, die sind intelligent und motiviert, wollen aber aus sozialem Druck schnell Geld verdienen», erklärt Schulz. Ein Teil der Flüchtlinge nehme lieber niederschwellige Jobs an, weil sie ihre Familien zu Hause unterstützen müssten, die teilweise mehrere Tausend Franken Schulden an die Fluchthelfer zurückzahlen müssen. Schulz lobt jedoch ausdrücklich den guten Charakter der Afghanen, die aktuell in Niederwil leben: «Wir konnten ein gutes Zusammenleben schaffen», findet der Betreuer, der mittlerweile ein Vertrauensverhältnis zu seinen Schützlingen aufgebaut hat. «Mir ist es wichtig gewesen, dass sie mich als stabile vertrauensvolle Person wahrnehmen», sagt er. Anfangs seien die Geflüchteten zurückhaltend gewesen, mittlerweile kämen sie aber auch mit persönlichen und teils psychologischen Problemen zu ihm, erzählt er. Im Bedarfsfall organisiert er für sie auch psychologische Unterstützung. Er selbst müsse eine gewisse professionelle Distanz wahren, um ihnen helfen zu können – und um sich selbst zu schützen. Das habe er jedoch schon in seiner Pflegetätigkeit gelernt: «Ihnen ist nicht gedient, wenn ich mitleide.»
Für die insgesamt besser gebildeten Ukrainerinnen und Ukrainer sieht Schulz gute Perspektiven in der Schweiz – sofern sie sich mental darauf einlassen können, dass sie wohl länger hierbleiben: «Viele stehen momentan am Scheideweg», glaubt er. Sie müssten sich entscheiden, ob sie langfristig bleiben oder eines Tages zurückkehren wollten. Nicht alle haben aber überhaupt eine Wahl. Viele kommen aus Teilen der Ostukraine, die von Russland annektiert ist. Ob sich daran in absehbarer Zeit etwas ändert, kann niemand vorhersagen.
Michael Lux