Manchmal bin ich ehrlich neidisch auf dich und dein Leben. Ich erzähle dir, warum:
Wenn früh morgens mein Wecker klingelt, habe ich ein grosses Glück – ich darf neben dir erwachen. Wie du dich streckst und mich mit noch verschlafenen Augen ansiehst, ist ...
Manchmal bin ich ehrlich neidisch auf dich und dein Leben. Ich erzähle dir, warum:
Wenn früh morgens mein Wecker klingelt, habe ich ein grosses Glück – ich darf neben dir erwachen. Wie du dich streckst und mich mit noch verschlafenen Augen ansiehst, ist herzerwärmend. Deine Ruhe schenkt mir für einen Moment das Gefühl, dass alles gut ist. Doch lange kann ich dir nicht zusehen – ich muss zur Arbeit, damit ich unser Leben bestreiten kann. Du trägst dazu nämlich nicht allzu viel bei.
Ich schätze es, dass du dich trotzdem erhebst und mir beim Frühstück Gesellschaft leistest. Wenn auch still und gähnend. Ich sehe dich an und wünsche mir, einfach bei dir zu bleiben. Der Gedanke, mich beim Chef krank zu melden, blitzt auf. Ich würde ihm ins Telefon husten und so tun, als hätte ich eine ganz schlimme Männergrippe. Auch wenn ich eine Frau bin. Doch ein Blick auf die Uhr holt mich zurück und sagt mir, dass das leider nicht geht und ich mich beeilen sollte. Schnell ziehe ich mir die Schuhe an und schlüpfe in meine Jacke. Ich drücke dir einen Kuss auf die Stirn und sage: «Bis später, mein Lieber. Ich bin bald wieder zu Hause. Hab einen schönen Tag.» Du drehst dich weg und verschwindest zurück ins Bett. Und ich lege einen olympischen Sprint zum Auto hin.
Neun Stunden später öffne ich erschöpft die Tür zu unserem trauten Heim. Du empfängst mich still und mit leicht zerzaustem Blick. Wahrscheinlich hast du wieder den ganzen Tag geschlafen. Ich frage mich kurz, ob der feine Herr wenigstens das Abendessen vorbereitet hat. Natürlich nicht. Also mache ich mir selbst etwas. Immerhin bleibst du in meiner Nähe, während ich esse. Ich erzähle dir von meinem Tag, auch wenn du nicht wirklich zuhörst.
Nach dem Essen sinken wir beide aufs Sofa. Stumm schauen wir zusammen noch eine Folge unserer Lieblingsserie. Sobald diese fertig ist, gehts ab ins Bett – morgen beginnt alles wieder von vorn. «Und täglich grüsst das Murmeltier.»
Ich kuschle mich in die Decke ein und schon kommst du zu mir. Wir sind etwa beide gleich müde, ich von der Arbeit, du vom Nichtstun. Du schmiegst dich näher an mich, und ich beneide dich leise. Ich wünsche dir eine gute Nacht. Der Gedanke durchströmt mich: Du hast dieses Leben zu 100 Prozent verdient.
Weil deins nicht so lange gehen wird wie meines. Und deshalb erfüllt sein sollte – mit gutem Essen, viel Schlaf und unendlicher Liebe. Du wunderbare Katze.